Verloren stand ich in der Ecke eines Vorplatzes einer Berliner S-Bahn-Unterführung. Der Herbst war da, die Kälte ließ sich schon riechen, doch es war hell und sonnig. Die letzten Tage waren trist und überschattet von einer bedrückenden Unruhe. Doch an diesem Tag schien sich etwas verändert zu haben und ich begann in der S-Bahn, ein Interview mit Siri Hustvedt in der Zeit zu lesen ,in dem sie sich an ihren verstorbenen Mann Paul Auster erinnerte – die gemeinsame Zeit, das literarische Arbeiten, ihre Beziehung. Als ich aus der S-Bahn stieg, wollte das Interview nicht enden, und ich war zu vertieft, um mit dem Lesen aufzuhören. Bis ich an den Vorplatz kam, wo mich der Satz traf: „Lass uns daran erinnern, wenn es soweit ist.“
Es war merkwürdig. Oft regen mich Sätze und Aphorismen an, vielleicht doch wieder mehr zu komponieren, die losen musikalischen Fäden zu festigen und ihnen eine materielle Notation zu geben.
Dieser Satz löste etwas in mir aus – eine Hoffnung, eine Sorge, vielleicht auch Scham. Oder war es nur das Akkordeon, das mir gleichzeitig mit dem Satz „Lass uns daran erinnern, wenn es soweit ist“ bewusst wurde? Beides verschmolz, und ich dachte daran, dass ich endlich wieder mehr Musik schreiben wollte. Vielleicht würden die ersten Versuche anstrengend und unbefriedigend sein, aber die wachsende Vorfreude brachte eine Art Entspannung. Vielleicht war das Akkordeon der Katalysator für diesen Satz. Woran wollte ich mich erinnern, wenn es soweit ist – und mit wem?
Eine Beziehung hatte ich nicht, und die Schilderungen Hustvedts offenbarten eine Sehnsucht, die es wert sein könnte, in Musik übersetzt zu werden. Vielleicht sollte ich wieder ein großes Orchester in Angriff nehmen, mitten im Schmelz eines Akkordeons, das diese Sehnsucht sinnbildlich kanalisieren könnte.
Die Melodie, die erklang, war mir nicht präsent, doch die Sehnsucht, die sie erzählte, berührte mich. Klangvorstellungen von orchestralen Bewegungen und Schichtungen kamen mir in den Sinn, die diese Sehnsucht ausloten könnten. Also fragte ich den Mann am Akkordeon, was er spielte. Er schien vom Leben gezeichnet, gebeutelt und einsam – etwas, das mir nicht unbekannt war. Im Schreiben assoziierte ich ihn mit der Farbe Blau: seine Haut ledern von der Sonne, durchzogen vom Alter. Er sprach nur Rumänisch, und ich war hilflos, ihn nach der Melodie zu fragen. Es hätte alles Mögliche sein können – ein Tango, ein Chanson, ein Schlager. Doch in meinem Höreindruck, vermischt mit dem Interview, entstand ein Assoziationsraum, der in dem Satz mündete: „Lass uns daran erinnern, wenn es soweit ist.“
Wann ist es soweit, sich zu erinnern – und mit wem bilde ich dieses „Wir“? Fragen nach der eigenen Lebensgestaltung, Sinnsuche, Erschöpfung und Nichtigkeit drängten sich auf, Fragen, die vielleicht nach einer musikalischen Verarbeitung verlangten. Aber wie könnte ich all das zum Klingen bringen, wie es notieren, damit ein sinnliches Ganzes entsteht? Rhythmik und Phrasierung sind natürlich wichtig, aber ist es noch zeitgemäß, mit Orchestermusik erzählen zu wollen? Oder verfalle ich nicht doch dem Kitsch, dem Selbstbetrug, indem ich nichts wirklich Eigenes hervorbringe? Diese Fragen drängten sich auf, als ich den Mut fasste, wieder Musik in Noten zu setzen. Es sollte kein Programm dahinterstehen, nur dieser eine Satz: „Lass uns daran erinnern, wenn es soweit ist.“